Besprechung der Show NOSFERATU / HISTOPLASMOSE bei MUSICA NOVA 2011 in Helsinki / Finnland

 

Die Sinfonie des Grauens. Jetzt.
12.2.2011, Auli Särkiö, www.amfion.fi

F.W. Murnau: Nosferatu
Livemusik: Interzone perceptible

[...] Für die Musik des Films zeichnete das deutsche experimentelle Duo Interzone perceptible verantwortlich. Sven Hermann und Matthias Hettmer beschworen eine schwebende Klanglandschaft herauf, die in die Poren des Bildes eindrang, neue Ebenen schuf und den zeitlichen Unterschied von beinahe 90 Jahren zu einem Minimum zusammenschrumpfen ließ. [...] Nosferatu ist [...] zwischen Mensch und Tier angesiedelt. Menschlichkeit/ Nicht-Menschlichkeit war eines der Themen, das Interzone perceptible in Angriff nahm. Die ahnungsvolles Grauen und Spannung ausdrückende Klangwolke machte sich menschenähnliche Töne, krächzendes Lachen, Seufzen, Zischen, Stöhnen zu Nutzen, allerdings weit umgearbeitet und Künstlichkeit, Tierhaftigkeit und Maschinenhaftigkeit thematisierend. An der Grenzfläche von Menschlichkeit und Artifiziellem wirkten die zweideutigen Menschenstimmen, die mit der Mimik der Figuren verbunden sind, kaum greifbar, klammerten sich am Bild fest, brachten den Stummfilm dem Zuschauer auf eine Art nah, die einen zusammenzucken lässt. [...] Die Interpretation, die die Identität des Vampir-Nosferatu ausforscht, ist sich dessen bewusst, dass sie die Bilder über Textschichten aus mehreren Jahrzehnten hindurch betrachtet. Die Klangwelt machte sich verschiedene auditive Intertexte zu Nutze: von Beginn an vereinte sich der widerhallende, rauschende Raum mit Geisterzügen und Computerspielen. Die Magie wurde mit piepender Weltraummusik betont, beim Pestalarm verwies die Musik auf Kriegs- und Fliegergeräusche. Die modernen Verweisobjekte frischten das Filmerlebnis auf und verdichteten es, betonten überraschende Details und brachten feine Nuancen zum Vorschein. Das traditionelle Winseln der Geigen, das Heulen der Orgeln und das Horrorklimpern dagegen versperren, verdecken und stumpfen das alte Bild ab, zumindest aus heutiger Sicht. Eine neue Musikspur bedeutet für einen Film auch immer eine Wiedergeburt. Auch auf die traditionellen Horroreffekte ließ sich Interzone perceptible ein. Aus dem Knarren der Türen, dem Quietschen der Schlösser, dem Rasseln der Ketten und dem gespenstischen Heulen wurden abstrakte Komponenten, mit denen die Musik operierte. Wirksamkeit, eine gewisse "musique concrète" war dann auch das Hauptprinzip, wenn auch die instrumentellen Eigenschaften des elektrischen Akkordeons und der Gitarren vor allem im chaotischen Klimax genutzt wurden (der in der schicksalhaften Schifffahrt Nosferatus in Richtung Wisborg besteht). In den düstersten Szenen wurde die Figur Nosferatus, die die Menschen verfolgt, mit starken Effekten angehoben, die nicht einfach zu lokalisieren waren: Gerassel, vielleicht von Feuer, Wasser oder Plastik, klirrendes Rasseln, das nur ahnungsvoll an Metall erinnern ließ. Zeitlose Klangeffekte interpretierten traditionelle Horrorbedeutungen aufs Neue. [...] Interzone perceptible bildete kein seinem Namen gemäßes "Zwischengebiet" zwischen Musik und Bild, sondern ließ das Bild lebendig, vielschichtig, frisch und äußerst beängstigend werden. Die Vorstellung zeigte begreiflich, welch große Bedeutung die Musik für den Film hat: sie gliederte den narrativen Aufbau des Films durch Höhepunkte und ruhige Momente, sie umriss die Figuren, entwickelte die Thematik und schaffte neue Bedeutungen (z.B. die Festsetzung von schwarzer Magie und Transsilvanien durch Sci-Fi-Verbindungen mit der bekannten Cyber-Klangwelt). Das zu erkennen kann neue Dimensionen beim Betrachten jedes erdenklichen Films eröffnen. Und vor allem würde man gerne mehr mit Hilfe von Musik mutig neuinterpretierte Stummfilme erleben.