Kommentar zu Uraufführung von "cut up or shut up" von Bernd Künzig

Nachdem der amerikanische Schriftsteller William S. Burroughs im Jahr 1959 seinen Roman "Naked lunch" veröffentlichte, erlebte die moderne Literatur einen ihrer so wichtigen Erschütterungsschläge. Mit den gewöhnlichen Romantheorien und den damit verbundenen ästhetischen Vorstellungen eines ganzheitlichen Individuums, das sich im Sinne des Entwicklungs- und Bildungsromans formt, war dem radikalen Text nicht beizukommen. Dessen traumartige, gar alptraumartige Strukturen und Szenarien alleine auf Burroughs damaligen intensiven Drogengebrauch zurückzuführen, führt in allzu enge Passagen. Der Vorgängerroman "Junkie", sechs Jahre zuvor veröffentlicht, zeigte in dokumentarischem Stil von höchster Präzision den fatalen Kreislauf von Rausch, Abhängigkeit und Zerfall eines Drogensüchtigen. Diesem Alptraum eines in der modernen Welt des 20. Jahrhunderts hilflos gestrandeten Subjekts, antwortet mit "Naked lunch" ein Text, der sich zu einem generellen amerikanischen Alptraum ausgeweitet hat, der in einem Netz medialer Manipulationen, mentaler und körperlicher Abhängigkeiten verstrickt ist. Revolutionär an Burroughs Roman ist dabei nicht allein diese sozio-politische Erkenntnis, die ähnlich bereits von Tom Wolfe formuliert wurde, sondern dessen formale Zuspitzung, die der Fragmentierung von Wahrnehmung, der Zerrissenheit von Innen und Außen und einer generellen Manipulation alles Wirklichen nicht mit einem hinter diese Tatsachen zurückfallenden Textkorpus antwortet, sondern diese nicht mehr beschreib- und erfassbare Wirklichkeit zur ästhetischen Strategie macht. Die nach dem Zufallsprinzip zusammengesetzten Textstrukturen aus Textpartikeln einer scheinbaren Wirklichkeitsbeschreibung, diese Methode des cut-up, diese bewußte Parallelität von Schnitt und Montage, entspricht einer durch Medien verstrahlten Wirklichkeit mehr, als der Versuch, diesem mentalen atomaren Desaster eine Außensicht entgegenzusetzen. Nicht nur Medienästhetiker und -kritiker haben Burroughs Schreibmethode mit höchster Bewunderung zur Kenntnis genommen, sondern auch Generationen von Lesern, die Identität in einem Underground jenseits des massenmedialen Hauptstroms gesucht haben. Zum musikalischen Underground der zeitgenössischen Musik scheint auch der Amerikaner Jeff Kowalkowski zu gehören, der mit "Cut up or shut up" nicht nur Methode und Ästhetik von Burroughs höchst produktivem Cut-up-Verfahren auf musikalische Strukturen übertragen hat, sondern eben auch ein Bild des amerikanischen Alptraums in Szene zu setzen sucht. Das notierte Ausgangsmaterial ist derart fragmentarisch, erweckt den Eindruck eines Materials für einen imaginären Sampler. Denn die wesentliche Basis von "Cut up or shut up" ist nicht mehr die Komposition, sondern die Kooperation zwischen Material und Interpret. Die Arbeitsplattform Interzone perceptible, die Kowalkowskis schräge Hippie- und Punk-Ode nun zur Uraufführung gebracht hat, kann selbst als Bestandteil des Werkes angesehen werden. Die Gestalt der Aufführung, die schauspielerischen Einlagen des Duos sind weitgehend deren Eigenerfindung, wiewohl auch die multimediale Ausweitung durch eine Videoprojektion, in der Auftritte von Heavy-metal-Bands mit Zeichentrickfolgen des täglichen Medienmülls kombiniert sind. Auf der Vorbühne agiert ein seltsames Quartett von Show-girls, deren festgefrorenes Lächeln so technoid steril und perfekt ist, wie ihr Gesang und ihre darstellerischen Qualitäten die Anforderungen einer Schulaufführung unterschreiten. Auf der einen Seite werden diese Zukunftskinder mit ihren buchstäblich aufsprießenden Sexualtrieben, die durch die äußerst enge Bekleidung überdeutlich hervortreten, mit dem Scheitern einer Konzeption von Glück und materiellem Reichtum konfrontiert, das in der Trivialwelt der Zeichentrickserien und dem kurzzeitigen Starruhm von Popstars begründet liegt. Darin liegt ein böser Blick auf den amerikanischen Alptraum, der längst zu unserem eigenen geworden ist. Wir sind nicht mehr die Kinder von Coca-Cola und Marx, sondern nur deren glücklose und eifersüchtige Nachahmer. Auf der anderen Seite sind es die Momente kompositorischer und musikalischer Virtuosität, die Wiedergeburt einer Schönheit des Melodischen, die als Schnitt und Montage in das multimediale Desaster gesetzt ist. Darin behauptet sich die musikalische Komposition von Jeff Kowalkowski gegen den konzeptionell notwendigen, radikaleren und lauteren Interpretations-, Aufführungs- und Regiezugriff von Interzone perceptible. Sie alle sind Teil dieses von Burroughs begründeten "Cut-up"-Verfahrens, das zwar höchst wirkmächtig, aber wenig bewußt ist. Dies zeigt sich in jenem dokumentarischen Interview-Material, das Jeff Kowalkowski wiederum zur Grundlage einer elektronischen Einspielung gemacht hat. So hat er nach Lektüreerfahrungen anhand von Burroughs Roman gefragt und Antworten erhalten, deren Sinn vielmehr im musikalischen Material der jeweiligen Stimmen begründet liegt, als in ihrem literarischen Erkenntniswert. Dergestalt zeigt der Komponist auch, wie sehr wir selbst zum cut-up-Material einer medialen Wirklichkeit geworden sind. Was zunächst als rein ästhetizistisches Multimediaspektakel beginnt, erweist sich als eine durchaus politische Konzeption eines anderen Musiktheaters, die nicht mehr zum Handeln bewegen will, sondern Aktionen innerhalb eines medialen Netzwerkes aufzeigt. Seltsamerweise scheint hinter der cut-up-Methode als einer den Begriff des Individuums auflösenden Schreibweise, in Jeff Kowalkowskis Werk erneut die Frage nach dem Sein des Subjekts auf. Ist er nun eine Maschine, wie bereits die Aufklärungsphilosophie Descartes und Leibniz glaubte, ist er zu jenem sich selbstentfremdeten medialen Apparat geworden, als den ihn Burroughs schildert oder ist er zum freien Willen fähig, wie das vorgeblich unvollendete Projekt der Moderne glaubt. In der klanglichen Schönheit, die Kowalkowski sowohl seinen Akkordeon- und E-Bass-Solisten, als auch einem im durchaus positiven Sinne dilettierenden Background-Chor anvertraut, steckt bei aller ironischen Distanz zum Show-Charakter des Stücks, auch viel Tröstliches und Anrührendes, das uns im multimedialen Bild- und Klanggewitter ein schutzheischendes Individuum wahrnehmen lässt, das vielleicht am Ende doch noch über die Technik siegen wird. In diesem Sinne gehört dem Dilettanten die Zukunft. Er zerstört die technische Perfektion und Funktionsfähigkeit, um etwas zu schaffen, woran er und sonst niemand mehr mit großer Leidenschaft glaubt: das Ich des Künstlers.

(Bernd Künzig zur Uraufführung von "Cut up or shut up" am 23.2.2001 in der Kunstwerkstatt am Hellweg, Bochum; Baden-Baden, 28.5.2001)